Inseln der Ruhe im tobenden Sturm Bei seinem Konzert in St. Joseph ging Olivier Latry, Titularorganist an der Kathedrale Notre-Dame in Paris, von Anfang an in die vollen. Mit der Choralimprovisation über den Osterhymnus "Vivtimae pascali laudes" von Charles Tournemire fegte er gleich zu Beginn des Konzertes über die Tasten, als ob es darum ginge, ein fulminantes Finale hinzulegen. Es war eindrucksvoll zu hören, wie sich in diesem Fall eine geradezu stupende Virtuosität und überbordende Musikalität zu einer schlüssigen Einhait verbanden.
Der improvisatorische Duktus kam ideal zum tragen, Kontraste - besonders langsame Passagen als Inseln der Ruhe inmitten eines tosendes Sturms - wurden wunderbar subtil ausgespielt. Trotz des mitreißenden Impetus spielte Latry stets mit größter Kontrolle und ließ auch ein so aufgeheiztes, von pochenden Achteln durchzogenes Stück wie "Le monde dans l'attente du saveur" aus der Symphonie-Passion von Marcel Dupré nicht aus dem Ruder laufen. Er leistete sich nur selten, wie bei den geradezu elektrisierenden, mir großer rhythmischer Spannkraft ausgestatteten Versetten über "Victimae pascali laudes" von Thierry Escaich, etwas mehr aus sich herauszugehen, sich zu mehr hinreißen zu lassen.
Unterkühlt wirkte dies nicht, aber doch kontrolliert, beherrscht und äußerst diszipliniert. Daneben verstand es Latry auch, die Musik zwischen den Noten feinfühlig zum Klingen zu bringen, etwa in der "Meditation improvisée" von Loius Vierne oder der "Berceuse à la mémoire de Louis Vierne" von Pierre Cochereau.
Mit einer phantasievollen Improvisation über das Kirchenlied "Nun lobet Gott im hohen Thron", in der er über weite Strecken Anklänge an den Stil Jehan Alains verwendete, zeigte sich Latry auch als Meister dieser kurzlebigen Disziplin.
(Guido Krahwinkel)
Riesige Wellen der Kraft
Dass Bonn als nördlichste Stadt von Rheinland-Pfalz durchgeht, jedenfalls in Sachen Orgel, verdankt sie Hans Peter Reiners. In die VII. Orgelfestwochen des Rheinland-Pfälzischen Kultursommers ist tatsächlich Bonn als einziger Ort nördlich der Landesgrenzen einbezogen. Genauer: Beuel, und das wegen der großen, französisch intrumentierten Oberlinger-Orgel, die Reiners 1981 nach St. Joseph holte.
Sonntag hat Olivier Latry, Titularorganist von Notre-Dame in Paris, das "Rendezvous mit Frankreich", wie die Orgelfestwochen diesmal titulieren, also bis nach Beuel ausgedehnt. Wir interpretieren es richtig, wenn wir den geographischen Vorteil von Rheinland-Pfalz von dieser Prachtorgel, die sich die Gemeinde St. Joseph leistet, wettgemacht sehen und hoffen für Reiners, dass das auch die Stadt so sieht.
Der 37-jährige Litaize-Schüler Latry, der 1998 Messiaens komplettes Orgelwerk zum 90. Geburtstag in St. Joseph aufführte, ist eins der großen Talente der französischen Orgelschule. Er liebt die große romantische Virtuosengebärde ebenso wie ein durchsichtig kalkuliertes stimmiges Spiel. Die Balance, die Genauigkeit, die Transparenz, in der er Bachs sechsstimmiges Ricercare aus dem "Musikalischen Opfer" dem Zuhörer offenbarte, war das eine.
Das andere war die - ja, man muß wohl sagen - emotionale Kraft, die er den daraus beeindruckend entwickelten Steigerungen andiente. Er ist kein Bach-Purist, aber ein Spieler, der das Berechenbare und das Irrationale auch bei Bach entdecken läßt. Drumherum gestellt war dann Französisches ab Mitte 19. Jahrhundert, sozusagen die zweite und dritte Generation derer, die die spätromantische französische Orgelschule berühmt machten.
Tournemire war mit Choralimprovisationen vertreten. Auf Bachs Ricercare folgte mit Viernes Meditation improvisee das ganze Gegenteil, nähmlich ein hochexpressives Stück Musik, wozu sich sehr feinsinnig Cochereaus dem Andenken Viernes gewidmete Berceuse gesellte. Den Virtuosen aber kehrte Latry bei Dupres Synkopen-Orgie "Le Monde dans attente du sauveur" aus der Symphonie-Passion hervor - vollgriffig, riesig, in immer neue ungestüme Kraftwellen mündend.